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Emma Hartmann



Jeder erlebt Koktass/Karbushevka auf seine eigene Art und Weise. Leute, die regelmäßig hinfahren, um ihre Angehörigen und/oder Eltern zu besuchen, um dafür zu sorgen, dass die Beziehung „Großeltern-Enkelkinder“ hergestellt wird oder erhalten bleibt. Sie setzen sich zum Ziel, möglichst viel in der kurzen Zeit zu helfen und ihre Sehnsucht zu stillen. Auf Grund dessen, haben sich diese Leute auch nie groß von Karbushevka entfernen können; die ganzen Entwicklungen und Veränderungen haben sie stets mitbekommen. Der Aufenthalt dort beschränkt sich dann meistens auf die „vier Wände“ des Elternhauses. Ihre Sichtweise wird durch die der Verwandten beeinflusst oder einfach übernommen. Diese sagen „Uns geht es gut, uns geht es sehr gut!“ und denken dabei an die ganz schlimmen Jahre, wo sie nicht einmal Strom hatten, geschweige denn Arbeit bzw. Einkommen jedweder Art. Wenn M. über diese Zeit spricht, kommen ihr jetzt noch die Tränen. Damals schaffte sie es, sich und ihrer Familie - durch die Herstellung und den Verkauf von Kumys (natürlich vergorene Stutenmilch) - aus der Not zu helfen. Mit einem Hauch von Witz und Humor erzählte sie die Geschichte von der abgestürzten Rakete. Ein Teil davon landete vor Lier Leos ehemaligem Haus. Dieser „Splitter“ soll 2x3 m groß gewesen sein und hoch radioaktiv, was sie allerdings erst ein paar Tage später erfahren haben. Selbst nach all den vergangenen Jahren konnte man die Tragik und die Spannung von damals in ihrer Erzählung immer noch deutlich spüren, ebenso der Ekel und der Schreck von der Heuschreckenplage das Jahr darauf. „Seitdem gedeihen die Gurken in unserem Garten nicht mehr“, meinte sie, „ansonsten aber geht es uns viel besser.“

Die anderen ehemaligen Dorfbewohner fahren unbeschwert hin: um Freunde zu besuchen, um eine schöne Zeit dort zu verbringen, um Urlaub zu machen. Allein dadurch bekommt man schon eine Einstellung, die alles positiv erscheinen lässt. Zwei Wochen lang werden sie tagsüber hin und her gefahren, sie bekommen alle Sehenswürdigkeiten gezeigt und abends folgt eine Einladung, der anderen. Der Stolz der einheimischen Gastgeber zwingt sie alles, was sie haben, auf den Tisch zu stellen. Die Abende werden durch ergreifende, schmeichelhafte, lobpreisende Trinksprüche ausgedehnt, die Erinnerungen an die guten alten Zeiten wachen auf. Das viele gute Essen entspannt und wenn man nicht abgeneigt ist, wird bis zum Umfallen getrunken.

Ist das Leben nicht schön? „Ihr habt es gut“, schmeichelt der Gast, „wenn ihr wollt, geht ihr zur Arbeit, wenn nicht, dann lasst ihr es. Wir dagegen müssen dem Arbeitgeber schon Bescheid sagen, wenn wir auch nur fünf Minuten später kommen.“ Die Einheimischen sind glücklich (uns geht es gut!) und der Gast auch; denn er weiß, dass er in zwei Wochen wieder nach Hause geht. Er kommt zurück nach Deutschland und erzählt, wie gut er dort empfangen wurde und wie schön doch alles war. Laut den Erzählungen, mangelt es den Leuten in Koktass an nichts!

Manche fahren hin, um noch einmal eine Kuh zu melken, zum Fischen oder zum Jagen.

Viele fahren hin, um die Gräber der verstorbenen Verwandten zu pflegen. Der „neue“ Friedhof sieht entsprechend gut aus. Über den „alten“ werden Botschaften folgender Art nach Deutschland geschickt: „Sagt den Deutschen, die sollen kommen und den Friedhof umzäunen, sonst macht unser Vieh die Gräber kaputt.“

Es gibt Leute, die aus nostalgischen Gründen hin fahren. Mit Videokamera und Fotoapparat ausgerüstet, westlich gekleidet und spendabel eingestimmt. „Wir können uns es leisten, uns fällt das Geld sowieso vom Himmel“, strahlen sie aus. Koktass wird wieder einmal gefilmt, es entsteht eine neue Karbushevka - Version. Die Menschen dort, auch wenn nicht alle mit Begeisterung, akzeptieren es.

Diejenigen, die in der Lage sind, die einst deutschen Häuser zufrieden stellend zu halten, freuen sich sogar, dass dies in Deutschland bekannt wird. Die Tore strahlen fast noch mehr als früher blau-grün. Es wird nicht gerne gesehen, wenn man die Ruinen filmen will: „Ihr dürft nicht Karbushevka bloß stellen!“. Sogar die Miliz hat uns deswegen an unserer „Baukunststelle“ besucht, zum Glück haben sie sich mit der Begründung „Wir filmen nur unsere Arbeit, und zwar das, was wir darauf gemalt haben“ zufrieden gegeben. Die Tatsache, dass wir mit unserer Kunst die verwahrloste Ruine überfallen haben, hat sie, Gott sei Dank, gar nicht interessiert.

Wir haben unsere Reise am 1.September 2006 angetreten. Dabei durften wir Koktass noch einmal anders erleben. Wir - das sind meine Tochter Julia, 24 Jahre alt, und ich. Sie, als Kunsttherapie-Studentin, schreibt ihre Diplomarbeit über die „Künstlerreise“, unter anderem über die Arbeit, die während der Reise entstanden ist. Ich habe sie begleitet und dabei unterstützt.

Bei unserer Wahrnehmung hat der zeitliche und der seelische Abstand bestimmt die größte Rolle gespielt: seit Februar 1991 hatten wir keinerlei Kontakt zu unserem Herkunftsort gepflegt, wir haben keine Verwandten dort und auch keine Freunde. Wir waren nicht eingeladen, wir sind nicht zum Besuch hingegangen, wir wussten nicht wo wir übernachten können und auf uns hat auch kein Programm gewartet.

Unsere Ziele waren nur grob definierbar und für die meisten unverständlich: Julia wusste noch nicht genau, wie ihr Projekt aussehen soll, denn sie wollte sich dort inspirieren lassen. Mein Ziel war es, meinem Mutterinstinkt zu folgen – zu beschützen. Um der Reise einen weiteren Sinn zu geben und um meine Vorbereitungen konkreter werden zu lassen, fing ich an, Kopftücher zu sammeln. Dabei waren mir meine Kolleginnen, Freunde und Verwandte sehr behilflich. Die fünf Kilogramm Tücher, insgesamt 74 Stück in allen möglichen Farben, haben wir dort an bekannte und unbekannte Frauen verschenkt. So konnten wir der neu aufgelebten Tradition eine Ehre erweisen.

Unterkunft haben wir bei Maria Chaber und Wassiliy Filjak gefunden. Besser hätte es uns nicht treffen können. Ihnen haben wir die schöne Zeit zu verdanken, an welche wir immer wieder gerne zurückdenken.

Trotz allem waren meine Sorgen, die ich mir vor der Reise gemacht hatte, nicht umsonst. Meine Vorfreude war berechtigt, alles hat seinen Platz gehabt. Ich habe mich sehr jung und sehr alt zugleich gefühlt. Alles war widersprüchlich. Vieles war sehr vertraut, in "unserem" Haus und Hof hätte ich genau da wieder anfangen können, wo ich vor fast 16 Jahren aufgehört hatte, und das so, als ob die Zeit in Deutschland nicht gewesen wäre. Es gab mir ein Gefühl von Sicherheit.

Das Dorf an sich hat sich trotz vielen Ruinen nicht groß verändert, doch alles war total fremd. Ich dachte, ich müsse dieses Land schnell wieder verlassen und dass ich es dort keine zwei Wochen aushalten könne. Die Weite der Steppe wirkte befreiend und gleichzeitig fühlte ich mich durch die Leere erdrückt und im Stich gelassen.

Es hätte Afghanistan sein können - ich hatte richtig Angst.

Die zwei Wochen sind schnell vergangen; ich hätte länger bleiben können. Die zweite Hälfte unseres Aufenthalts haben wir von morgens 7 bis abends 7 an Julias künstlerischem Projekt gearbeitet. Hätte es angefangen zu regnen, wären wir mit der Arbeit nicht fertig geworden.

Wir hatten sehr schönes Wetter gehabt. Die heiße Sonne hat uns schnell gebräunt. Wir waren froh, dass wir Vliesjacken mitgenommen hatten, denn abends und morgens war es ganz schön kalt - und den ersten Frost hatten sie bereits am 1. September gehabt. Der Wind war manchmal so stark, dass es Blätter aus einem geöffneten Buch gerissen hat. Mir machte es nichts aus, doch Julia erkältete leicht. Ich hatte dafür Magen-Darm Probleme, habe wohl das Essen nicht vertragen.

Wir sind viel herumgelaufen und haben viel gesehen. Wir sind aufgefallen wie bunte oder besser gesagt blonde Hunde. Einmal wurde uns "Хайль Гитлер" hinterher geschrieen - wir sind einfach weiter gelaufen. Aber das waren Jugendliche und es kam nur einmal vor. Manchmal haben uns irgendwelche Schulkinder „Гутен Так!“ entgegen gerufen und laut losgelacht. Oft wurden wir wie Luft behandelt. Dies fiel uns vor allem in Läden auf. Wir bekamen auf unsere Begrüßungen und Fragen kaum eine Antwort, geschweige denn ein Lächeln. In Anbetracht der seltsamen Öffnungszeiten und der Tatsache, dass man, wenn es um einen bestimmten Wunsch ging, von einem Laden zum anderen rennen musste (zum Glück befinden sich alle acht in unmittelbarer Nähe), konnten wir unserem Vorhaben, diese Läden nicht mehr zu betreten, nicht immer treu bleiben.

Weil das Sortiment ziemlich knapp berechnet und auf den einheimischen Verbraucher abgestimmt ist, hatten wir oft Pech. Auf den ersten Blick fehlte es an nichts, doch verlangten wir nach zwei Flaschen „Sprite“, von denen eine bereits auf dem obersten Regal im Laden ausgestellt war, geriet die Verkäuferin in Panik. Denn erstens gab es nur diese eine verstaubte Flasche und zweitens musste sie erst umständlich von ganz oben heruntergeholt werden. Mit dem alkoholfreien Bier ist es uns ebenso ergangen.

Dafür gibt es mit Wodka keine Probleme. Wodka kann zu jederzeit und überall gekauft werden. Den gibt es sogar sehr preiswert auf Ausschank in Plastikbecher, die im Geschäft dafür bereit stehen, oder zum Auffüllen in selbst mitgebrachte Flaschen. Schon am Morgen kann man dies beobachten. Bei all den verschiedenen Sorten von Wodka in unterschiedlichen Preisklassen, gibt es Marken, die vergleichsweise günstiger sind als zwei Kilo Mehl, vier Rollen Toilettenpapier, eine Flasche Cola oder eine Schachtel Pralinen. Man kann ihn auch ohne sofortige Zahlung bekommen - dann werden die Schulden einfach angeschrieben. Die Ladenbesitzer orientieren sich in der Beschaffung von Produkten, deren Qualität und Preisen an den finanziellen Möglichkeiten der Dorfbewohner.

Es gibt viele Leute in Koktass, die gar keine Einkünfte haben und solche, die im Monat nur 9.000 Tenge verdienen, und dass ohne Urlaub und offizielle freie Tage. Wenn es den Arbeitern zuviel wird oder wenn sie Besuch bekommen, so nehmen sie sich die Freiheit und bleiben zu Hause, denn sie haben nichts zu verlieren. Für den „über Nacht“ plötzlich reich gewordenen Nachbarn, arbeiten die im Sozialismus groß gewordenen Dorfbewohner nur ungern. Sogar wenn man selber für den reichen „Nachbar“ arbeitet, kann man einen ärmeren „Nachbar“ für sich arbeiten lassen, was oft praktiziert wird. Die Entgeltung beschränkt sich meistens auf Essensreste und/oder abgetragene Kleidungsstücke. Einen sicheren Status hat man als Lehrer, Arzt oder Krankenschwester. Alle anderen Arbeitsstellen sind mit dem Zerfall der Sowchose zunichte gegangen.

Koktass wird stark durch die vielen Ruinen geprägt: Reste von den Industrie- und landwirtschaftlichen Gebäuden, sowie von leer gestandenen privaten Wohnhäusern zeigen sich überall im Dorf. Die Räder der alten Bewässerungsanlage (Poliwalki) stützen mal hier, mal dort die kaputten Zäune oder dienen selbst als welche.

Es wird nichts mehr produziert und von der ehemals starken Planlandwirtschaft ist keine Spur mehr zu sehen. Jeder wirtschaftet in seinem eigenen Stall und Hof, ohne Druck und feste Arbeitszeiten. Um über die Runden zu kommen, ist man gezwungen, mehr Vieh zu halten, vorausgesetzt man ist in der Lage, für die winterlichen Futtervorräte zu sorgen. Ein durchschnittliches Monatseinkommen (Arbeitslohn/Rente) reicht nicht einmal für den Kauf von einem Wagen Heu oder Kohle aus. Auch bei der Versorgung der erworbenen Güter macht sich der Mangel an Technik deutlich bemerkbar: alles muss von Hand und mit eigener Kraft verrichtet werden. Zu einem noch größeren Problem wird es bei älteren Leuten, wenn auch noch die Gesundheit nicht mehr mitmacht. Irgendwann müssen sie die Überlegung, in die Stadt zu ziehen, ernst nehmen.

Auch die Kinder haben keine Zukunft im Dorf. Nach der Schule gehen sie in die Stadt, um eine Ausbildung zu machen, deren Ausübung im Dorf unwahrscheinlich sein wird. Sie kommen meist nicht mehr zurück.

Die uniformierten Schüler sehen außerhalb der Schule in Hauskleidern ganz anders aus - man erkennt sie kaum wieder. Die Uniform lässt die kleinen Jungen im Grundschulalter wie Bräutigame aussehen, am meisten tragen dazu die spitzen schwarzen Schuhe bei. Auch die Mädchen sehen sehr feierlich mit den riesengroßen Schleifen auf dem Kopf aus. Die schwarz-weiße Uniform soll pflegeleicht sein und wird aus China, wie noch vieles mehr, importiert. Auch die Lehrer sind auffallend chic, feierlich und farbenfroh gekleidet. Ich fragte mich, wie sie es bei diesen Straßenverhältnissen und in diesen Stöckelschühchen geschafft haben, unbeschädigt in die Schule zu kommen. Die Schüler sehen sehr brav und musterhaft wie eh und je aus. Im Vergleich zu Schülern in Deutschland erscheint dieses Auftreten aufgesetzt.

Da die Schule verhältnismäßig gut ausgestattet ist, wird von der höheren Schulinstanz mit dem Gedanken gespielt, erneut ein Internat in Koktass zu bauen. Das alte Internat, genauer gesagt, der Rest davon, grenzt an Chabers Garten - so hatten wir ihn ständig vor Augen. Am vorletzten Tag unserer Reise ging ich dem Wunsch nach, auf die noch stehenden Wände des Gebäudes fehlende Fenster zu malen.

„Was sagst du zu dem Kindergarten?“, wurde ich gefragt. „Kindergarten? Ich habe keinen Kindergarten gesehen.“ Ich dachte an die sechs Gruppen, die dort Platz hatten, an die vielen kleinen Stühle, Tische, Betten, mit denen sie ausgestattet waren, an den großen hellen Gymnastikraum, die Küche und die drei Mahlzeiten am Tag und mir taten die Kinder, die jetzt im Dorf aufwachsen, besonders Leid. Wahrscheinlich weil das Kindergartengebäude relativ neu war, konnte man fast das ganze Baumaterial in Geld umsetzen und anderweitig verwenden. Man sieht kaum Reste, nur noch einpaar Bäume und die Heizungsscheune. Von den Dorfbewohnern wird es nicht so tragisch gesehen: „Wer könnte den Kindergarten schon bezahlen? Und außerdem gehen wir doch gar nicht arbeiten.“ Als Alternative hat man jetzt in der Schule eine Vorschulgruppe eingerichtet.

Viele der jungen Frauen und Mütter leiden unter Alkoholproblemen. Für die Kinder der Betroffenen sammelt die Schule Kleider, doch in der Regel reagieren die Dorfbewohner darauf mit dem Kommentar „selber Schuld“. 

Klub, Kino, Konzerte, Diskotheken haben immer einen großen Anklang bei Karbushevka’s Leuten gefunden. In das Kino ist man gegangen, auch wenn man seinen eigenen Hocker dafür mitnehmen musste. Zugegeben, der Fernseher macht dem Klub schon seit längerem Konkurrenz, aber mussten denn gleich die Kinoapparate als Altmetall nach China oder sonst wohin verkauft werden?

Im Klubgebäude sind noch die Post und die Bücherei untergebracht. Die zwei großen Räume auf der oberen Etage wurden in einen Kampfsaal umgewandelt. Aratajews, Lidas Wald und Bolats Reich „Kinobudka“ dient nun als Rumpelkammer. Der jetzige Klubleiter ließ uns sehr ungern und nur kurz einen Blick hinein werfen. Diskotheken finden wohl noch hin und wieder statt, aber da auch dort die Jugendlichen auf den Drogengenuss gekommen sind, haben die keinen guten Ruf.

Die Bräuche des einst unterdrückten Volkes sind endlich offiziell durchführbar und mehr als nur anerkannt. Der Koran hat im Bücherregal vieler einen Ehrenplatz gefunden. Nach dem Essen wird gebetet; die Moscheen verleihen der Stadt Karaganda ein orientalisches Aussehen. Babys werden in Bessiki (Holzwiege aus der Nomadenzeit) gebettet - „wie vor hundert Jahren“, erzählte uns stolz eine Mama. Die Mädchen können schon mit 15 oder 16 Jahren „gestohlen“ werden (eine Tradition, auf die eine zwangsmäßige Heirat folgt), was manche Väter, allein von dem Gedanken, in Wut versetzt.

Die Schule ist nun seit etwa zehn Jahren kasachisch; dieses Jahr haben die letzten nur wenigen Schüler, die bis jetzt noch auf Russisch unterrichtet wurden, die Schule mit ausgezeichneten Kasachischkenntnissen beendet.

Die Geschichtsbücher wurden umgeschrieben. Der prähistorischen Geschichte wird viel Bedeutung beigemessen, ebenso der Geschichte des unabhängigen Kasachstan. Das Leben unter dem Sowjetregime findet heute nur in stark verkürzter und auf Daten reduzierter Form Erwähnung. So müssen sich die armen Schüler nicht mehr die vielen Namen der Molodogwardeyzy einprägen. Zu den wichtigsten neugeschichtlichen Ereignissen werden der 16. Dezember 1986 (Demonstration gegen Kolbin) und der 16. Dezember 1991 (Tag der Unabhängigkeit Kasachstans) gezählt. Die aktuelle Regierung strebt das oberste Ziel an, im Jahre 2030 „zu den zehn wirtschaftlich stärksten Ländern der Welt zu gehören“. Ergänzend wird von den Menschen in Koktass hinzugefügt „so wie Deutschland!“. Diese Vision wird durch zahlreiche Plakate, auf denen Nasarbajew dem Volk über den abgebildeten Zahlen 20 30 entgegenlächelt, immer wieder in Erinnerung gerufen. Sie wurde in der Schule bereits in die Chronik der Geschichte aufgenommen.

Nasarbajew ist bei den meisten sehr beliebt. Bei den letzten Wahlen bekam er 98% der Stimmen. Die zahlreichen Porträts von ihm sind überall verteilt, auch im Büro des Schuldirektors in Karbushevka/Koktass.

Wir haben viel (auch unter uns) russisch gesprochen und uns bemüht, keine deutschen Wörter dazwischen rutschten zu lassen. Es ist mir leicht gefallen und darauf war ich stolz, doch jeder Zweite sagte, dass mein deutscher Akzent nicht zu überhören wäre. Sie haben sich gewundert, dass Julia die Sprache noch beherrscht.

Wie schon einmal erwähnt, haben wir zwei schöne Wochen bei Maria Chaber und Wassilij Filjak verbracht. Uns hat es dort an nichts gefehlt, wir haben uns wie zu Hause gefühlt. Wir wurden von Marat Baikenow und seiner Frau Saule in Karaganda freundlich empfangen, ebenso von Arinowa Rauschan und Abai in Koktass. Während unseres Aufenthalts dort hatten wir viele schöne Begegnungen. Schöne Momente erlebten wir bei Wolf Maria und Iwan, bei Satkul Kadauowitsch, Torgai und Bibigul, mit Aratajewa Marguasch und Tolik, Kaineken Alimowa, Galina und Tolik Grintschuk, Ira und Bogdan Rybtschak. Auch die Gastfreundschaft von Altynai Tursunbajewa durften wir genießen. Danijal war leider nicht zu Hause, an dem Tag musste er wohl bis in die Nacht arbeiten (Schuljahranfang). Olga und Viktor Ostapenko, Kunanbajewa Dariga und Sajat, Kabdulla, Gauchar, Shanna Mussina,

T. Luba Lerch haben uns öfters besucht; mit Pawel Rudenko und Natascha sind wir nach Karkaralinsk gefahren. Manchen, wie Luba Grintschuk, Taschenowa Katja oder Baurshan Kurumow sind wir auf der Straße begegnet. Nadja Shukenova suchten wir notgedrungen in der Ambulanz auf.

Alle gaben uns Grüße nach Deutschland mit, die ich auf diesem Weg weitergeben möchte. Einen besonderen Gruß an Larissa Wagner, an Werners und Friese lässt Marat Abeldinow ausrichten.

Dadurch, dass wir an vier Tagen am Stück im öffentlichen Raum arbeiteten (an der Ruine - ehemals bewohnt von Rudenko Pawel und T. Mascha Syrowatskaja), wussten die Dorfbewohner, wo sie uns auffinden konnten. Dann gab es welche, die zufällig vorbei gelaufen und aufmerksam geworden sind. So hatten wir oft Zuschauer gehabt und viele Leute kennen gelernt; manche waren freundlich, die anderen fast schon aggressiv. Und so entwickelte sich unser Ort der Arbeit zum Ort der Kommunikation. Die meisten haben gerne über sich erzählt, über ihre Nachbarn, über die Politik des Dorfes, des Landes, über die vielen Veränderungen: einem kommen sie gelegen, die anderen regen sich auf. Auch hier trennen sich die Meinungen und Ansichten. R. sagt: „ich bin für so und so viele Familien verantwortlich, ich sorge für sie“. Die anderen sagen: „R. besitzt so und so viele Familien als Leibeigene.“ An unserem Leben in Deutschland haben sie wenig Interesse gezeigt. Es beschränkte sich auf Fragen dieser Art: “Wie geht es dem und dem? am Anfang hat er mir noch geschrieben…?“ oder „Wo wohnt der und der; was? – ihr habt euch dort kein einziges Mal gesehen?“

Viele haben uns bemitleidet: „Ihr habt doch so oft Überschwemmungen, haben wir im Fernsehen gesehen. Gott sei Dank, geht es uns gut.“

Im Mittelpunkt war aber „unsere“ Ruine: „Habt ihr dieses Haus gekauft?“, „Warum bemalt ihr die Ruine, warum nicht unser Haus?“, „Warum habt ihr nicht zuerst die Fensterlücken zugemauert und die Wände verputzt?“, „Was ist, wenn es jemand kaputt macht oder der Regen alles weg wischt?“

Auf diese Weise lernten wir Shenja Nugumanowa mit ihren Kindern und Enkelkindern kennen. Shenjas Gesellschaft gab unserer Arbeit einen anderen Charakter – wir hatten viel Freude mit ihr.

Oft haben uns und unsere „Kunstbaustelle“ Kinder besucht. Manche sprachen ein gebrochenes, manche gar kein Russisch. Sie haben herum geblödelt, geturnt, gelacht und zugeschaut. Eine junge Frau (Anfang 20, Erzieherin, arbeitslos, aus dem ehemaligen Sowchos Perwomaiskiy) hat das Entstehen des „Kunstwerkes“ Schritt für Schritt verfolgt. Sie war auch an dem Ergebnis sehr interessiert. Am letzten Tag trug sie ihren künstlerischen Beitrag vor, indem sie uns kasachische Lieder vorsang. Auf ihren kleinen Bruder und dessen Freunde wirkte es ansteckend und schon machten sie auch kräftig mit. Die Kinder haben uns gefragt, wann wir wieder kommen würden und warum wir nicht für immer zurückkämen.

All das bzw. manches davon haben wir mit der Videokamera dokumentiert.

Die Reise hat mir sehr gut gefallen. Ich bin froh, dass ich dank Julia gezwungen war, sie zu machen - auch wenn die Zollbeamten in Karaganda sich bemüht haben, das Gegenteil zu erzielen. Infolge von Unannehmlichkeiten am Flughafen von Karaganda, konnte ich dann auch den Rückflug, trotz Flugangst bezüglich der langen Strecke, acht Stunden lang genießen!

Von einem Freund hat Julia die Kasachstanflagge geschenkt bekommen (ausgerechnet am Flughafen gekauft). Ich sagte zu ihr: „Wenn wir nach Hause kommen, schmeißt du sie sofort in den Mülleimer!“ Die Flagge (ein kleines Fähnchen) habe ich in ihr Zimmer gestellt. Sie hat eine schöne blaue Farbe, ist mit Gold bemalt und wird auf einen goldenen Spieß gezogen.

Die kasachische Tracht, die wir geschenkt bekommen haben, habe ich in mein Zimmer gehängt.

 
Januar 2007









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